Man stelle sich vor: Auf einem
Frühstückstisch einer kleinen Familie stand jeden Morgen ein
halbvolles Milchglas. Dieses Milchglas war sich schon seit seiner
Schmelzung im Glaswerk sicher, dass es niemals zerbrechen werde. Es
fürchtete den Abgrund, der sich am Tischrand auftat, nicht.
Nach jahrelangem Überlegen fasste es
unter der Dusche der Spülmaschine endlich den Mut am folgenden
Morgen seine Festigkeit vor all den anderen Gläsern und insbesondere
den arroganten, verzierten Porzellanbechern zu beweisen.
Da war es also: Das durchsichtige Gefäß
mit dem weißen Inhalt auf dem frisch gedeckten Tisch.
Es musste schnell gehen, bevor alle
Familienmitglieder erscheinen. So schob sich das Glas zielsicher,
jedoch behutsam um keinen Tropfen zu verschütten, an den Rand des
Tisches.
Es betete zum Herrn der Schmelze und
spürte, wie die aufgeregten Blicke der anderen Gläser an ihm
hafteten. Noch bevor die natürliche Angst eintrat, schwang es sich
elegant nach vorne und fiel in die Tiefe.
Während dem Flug achtete es darauf,
nicht umzukippen, um auf dem Boden keine Sauerei zu hinterlassen. Es
erlebte vor lauter Ekstase das gesamte Leben noch einmal: Wie es von
der Familie einst in einem schwedischen Möbelladen erstanden wurde,
wie aus ihm das erste Mal getrunken wurde, wie es die anderen Gläser
kennen lernte... Alle wichtigen Ereignisse spielten sich vor dem
inneren Auge ab.
Und dann endete der Flug. Er endete auf
einem weichen, gestreiften Widerstand. Das Milchglas spürte, wie es
robust blieb und war sich für einen Moment sicher, dass alles vorbei
war.
Doch der Widerstand zuckte wild, das
Glas glitt hinab auf den kalten Boden und verlor das Gleichgewicht.
Zwar befand es sich immer noch in heilem Zustand, doch der Inhalt
ergoss sich über die Fliesen der Küche. Nun wurde dem Glas klar: Es
landete auf dem Kater der Familie, welcher sich fauchend über die
merkwürdige Aufweckaktion beschwerte. Doch schlaftrunken wie er war,
lies er vom Gefäß ab und machte sich über die Milch her.
Keine Minute später betrat der
Besitzer die Küche, fluchte etwas, und griff nach dem Glas.
In der Luft sah das Milchglas die
staunenden und sprachlosen Gesichter der Anderen und fühlte sich
stolz, jedoch nach all dem Trubel, Stress und Verlust der Milch
innerlich leer.
Als es eine Stunde später wieder mit
den Kollegen im Schrank stand, lobten ihn manche. Andere wiederum
konnten sich nicht erklären, wie das Milchglas den Sturz überlebte.
Niemand hatte den Kater gesehen, denn es traute sich keiner an den
Rand des Tisches.
Das Glas überlegte, ob es sich
erklären solle. Es dachte darüber nach, den Zauber zu vernichten
und den Deus ex machina zu entblößen.