Donnerstag, 2. August 2012

Herbstallee

Es war Herbst. Das sah man an den langsam herabfallenden Blätter der Linden. Man sah es an dem Laub, welches den Weg der Allee golden färbte. Aber man merkte es auch an dem Mann, der bedächtlich - und mit unsicherem Gesicht, die trockenen Blätter unter seinen Schritten zerbrach. Fast wie ein Störenfried fühlte er sich dabei. Als würde er die Ruhe zwischen den Bäumen durch seine bloße Anwesenheit aus dem Einklang bringen. So bemühte er sich weniger panisch und vor allem leiser in seiner ledernen Lehrertasche zu wühlen. Der Mann war auf der Suche nach seinem Fahrticket, welches er heute morgen ganz bestimmt wie immer in das hintere Fach verstaut hatte. Doch auch nach der fünften Komplettdurchsuchung war das Ticket nicht auffindbar. Es wäre das erste Mal in 15 Jahren, dass er diesen Fetzen Papier verlieren würde. Und dies wäre auch ganz bestimmt etwas, was ihn aus seinem Rythmus wirft. - So wie er es gerade mit den Bäumen in der Allee machte. Das Gesamtbild passte nicht und er wollte einfach nur nach Hause. Sich vom stressigen Arbeitstag erholen. So wie jeden Tag. Nach Hause, essen, fernsehen, aus dem Fenster blicken. Und letztendlich seine Sammlung mit einem weiteren Ticket vergrößern, was heute leider nicht möglich war . Demnach konnte er seinen Tag nicht abschließen. Alle Mühen, vom Stress der Arbeit bis hin zu Alltagsgedanken, würden sich zu einem spitzen Steinchen formen, der den sich hypnotisch drehenden Kreisel aus der Bahn werfe. Der Deckel für das Emotionsgefäß ward verloren. Die Haare des Mannes noch grauer und seine Augen verwirrter. So blieb er in der Allee stehen und machte prompt auf dem Absatz kehrt. ''Wenn ich es hier nicht finde, gehe ich einfach zurück und suche auf dem Weg,'' hallte es in seinem Kopf. Er spürte, wie es ihm aufgrund des beschleunigten Schrittes warm in Gesicht und Körper wurde. Den Boden fixierend lief er angespannt vom Wohnbezirk der Stadt zurück in das Industriegebiet mit dem kleinen, rustikalen Personenbahnhof. Sein Gesicht schnitt eine konzentrierte Grimasse, welche die Sorgenfalten nur noch mehr betonte und sich im Ausdruck dem Lauftempo anpasste. Der Luftzug des weißen Kunststoffmantels, gekauft weil praktisch und günstig, wirbelte die Blätter hinter ihm auf. Seine Erscheinung ähnelte der eines zerstreuten Wissenschaftlers, welcher sich über das Misslingen eines langjährig geplanten Experimentes grämte. Leute wichen ihm aus - das taten sie sonst nie! "Vielleicht sollte ich es akzeptieren? So etwas kommt doch immer vor! Auch mir. Selbst mir kommt einmal etwas abhanden! Ich mache einfach weiter wie...'' Der alte Bahnhof vor ihm stoppte seinen Gedankengang. Der Herr kniff die Augen ein wenig zusammen und starrte die Messingbuchstaben des Bahnhofschilds wie eine Kampferklärung an. Er bemerkte seinen Puls und schweren Atem, fühlte zwei feuchte Stellen unter den Achseln. Und da entdeckte er den Mülleimer, der ihm nie zuvor auffiel. Der Abfall wurde noch nicht entsorgt. Bei näherer Betrachtung fielen ihm weggeworfene Fahrtickets auf. Er griff hinein, zog ein paar zufällig gewählte heraus, und las mit mulmigem Gefühl die Zielorte der Fahrgäste. Sie kamen von unterschiedlichen Orten, aber alle mit der Endstation an diesem Ort. ''Wenn ich sie mitnehme, kann ich dann meinen Verlust ausgleichen?'' Nein, die Abfahrtszeiten passten nicht. Es wäre nicht dasselbe. Es wäre eine Lüge: Es wäre nicht seine Geschichte. ''Wie aber soll ich nun so weitermachen? Ich fuhr heute Morgen los, doch kam nie zurück.'' Sein Blick wand sich dem Ticketautomaten zu. Für eine Sekunde rieb er sich den Kopf, dann trat er vor ihn. Der Mann lächelte schelmisch. Mit einem Gefühl der Freiheit saß er im Abteil und hielt das Ticket stolz in der Hand. Er hatte sich die längste und teuerste Fahrt, welche gerade möglich war, gebucht. Obgleich er vor Aufregung, Angst und Unsicherheit zitterte, konnte ihn nichts davon abbringen, die 4-stündige Reise abzubrechen. Landschaften, welche er sonst nicht sah, erfreuten sein Gemüt. Die Innenausstattung des Zuges war ihm fremd - sogar die Passagiere kamen ihm noch fremder als sonst vor. Kurz: Alles war ihm neu. Nach der erschöpfenden Hin- und Rückfahrt ward seine Heimat schon in Nacht getaucht und er trat zum ersten Mal seinen Heimweg im Schein des Mondes an. Müde bog er in die Allee. Sie war noch leiser als am Tage und seine Bewegungen tönten noch lauter. Doch das störte ihn nicht. Das knuspernde Geräusch unter seinen Schuhen belustigte ihn eher. So platzte das Equilibrium der Allee wie eine Seifenblase. Doch niemand schien es zu stören - nicht einmal die Bäume, welche dem Mann noch mehr Material zum Zertreten auf den Boden warfen. ''Heute hatte ich also frei,'' grinste er. ''Heute hatte ich mal Urlaub.''