Sonntag, 11. November 2012

Das Milchglas, das den Sprung wagte

Man stelle sich vor: Auf einem Frühstückstisch einer kleinen Familie stand jeden Morgen ein halbvolles Milchglas. Dieses Milchglas war sich schon seit seiner Schmelzung im Glaswerk sicher, dass es niemals zerbrechen werde. Es fürchtete den Abgrund, der sich am Tischrand auftat, nicht.
Nach jahrelangem Überlegen fasste es unter der Dusche der Spülmaschine endlich den Mut am folgenden Morgen seine Festigkeit vor all den anderen Gläsern und insbesondere den arroganten, verzierten Porzellanbechern zu beweisen.
Da war es also: Das durchsichtige Gefäß mit dem weißen Inhalt auf dem frisch gedeckten Tisch.
Es musste schnell gehen, bevor alle Familienmitglieder erscheinen. So schob sich das Glas zielsicher, jedoch behutsam um keinen Tropfen zu verschütten, an den Rand des Tisches.
Es betete zum Herrn der Schmelze und spürte, wie die aufgeregten Blicke der anderen Gläser an ihm hafteten. Noch bevor die natürliche Angst eintrat, schwang es sich elegant nach vorne und fiel in die Tiefe.
Während dem Flug achtete es darauf, nicht umzukippen, um auf dem Boden keine Sauerei zu hinterlassen. Es erlebte vor lauter Ekstase das gesamte Leben noch einmal: Wie es von der Familie einst in einem schwedischen Möbelladen erstanden wurde, wie aus ihm das erste Mal getrunken wurde, wie es die anderen Gläser kennen lernte... Alle wichtigen Ereignisse spielten sich vor dem inneren Auge ab.
Und dann endete der Flug. Er endete auf einem weichen, gestreiften Widerstand. Das Milchglas spürte, wie es robust blieb und war sich für einen Moment sicher, dass alles vorbei war.
Doch der Widerstand zuckte wild, das Glas glitt hinab auf den kalten Boden und verlor das Gleichgewicht. Zwar befand es sich immer noch in heilem Zustand, doch der Inhalt ergoss sich über die Fliesen der Küche. Nun wurde dem Glas klar: Es landete auf dem Kater der Familie, welcher sich fauchend über die merkwürdige Aufweckaktion beschwerte. Doch schlaftrunken wie er war, lies er vom Gefäß ab und machte sich über die Milch her.
Keine Minute später betrat der Besitzer die Küche, fluchte etwas, und griff nach dem Glas.
In der Luft sah das Milchglas die staunenden und sprachlosen Gesichter der Anderen und fühlte sich stolz, jedoch nach all dem Trubel, Stress und Verlust der Milch innerlich leer.
Als es eine Stunde später wieder mit den Kollegen im Schrank stand, lobten ihn manche. Andere wiederum konnten sich nicht erklären, wie das Milchglas den Sturz überlebte. Niemand hatte den Kater gesehen, denn es traute sich keiner an den Rand des Tisches.
Das Glas überlegte, ob es sich erklären solle. Es dachte darüber nach, den Zauber zu vernichten und den Deus ex machina zu entblößen.